Paul Bekaert: „Wenn es um die Einheit Spaniens geht, lebt Franco noch“

Am 18.01.18. erschien auf directa.cat ein Interview von Bart Grugeon mit dem Anwalt von Carles Puigdemont, Paul Bekaert.

Die Übersetzung des Artikels Paul Bekaert: "Quan es tracta de la unitat d'Espanya, Franco segueix viu" erhielten wir von Max (Twitter: @catabalat) per E-Mail. Vielen Dank für deine gute Arbeit, lieber Max.

 

Paul Bekaert: „Wenn es um die Einheit Spaniens geht, lebt Franco noch“


Wir sprechen mit dem Anwalt von Carles Puigdemont in seinem Haus, in der belgischen Stadt Tielt. Mit 43 Jahren Berufserfahrung in der Verteidigung der Menschenrechte stellt er die Rolle des spanischen Staates gegenüber dem katalanischen Unabhängigkeitsprozess, das Auftreten der Polizei während des Referendums am 1. Oktober und die Anwendung des Paragrafen 155 der spanischen Verfassung in Frage.

Der belgische Verteidiger Paul Bekaert, spezialisiert auf Menschenrechte und Kenner der Richterschaft des spanischen Staates seit dem Ende des Franquismus, stellt die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der Judikative in Frage. Gleichzeitig zeigt er sich sehr kritisch mit der Doppelmoral der Europäischen Union gegenüber der katalanischen Sache. Während des Interviews in seinem Haus, in der belgischen Stadt Tielt, ermutigt der Rechtsanwalt das katalanische Volk, auf die Selbstorganisationsfähigkeit der Zivilgesellschaft zu vertrauen. „Wenn eine Mehrheit sich kriminell verhält, kann man nicht weiterhin demokratisch sein. Dann muss man ethisch sein.“

Sie haben sich als Anwalt auf Menschenrechte mit internationalen Erfahrungen spezialisiert. War das eine bewusste Entscheidung?

Ich bin in verschiedenen Bereichen als Anwalt tätig, aber seit 1975 war ich sehr mit der Flämischen Liga für Menschenrechte verbunden und ich sehe mich als ein Anwalt und als ein Aktivist für Menschenrechte. Aufgrund meines Einsatzes werde ich regelmäßig für politische Prozesse verpflichtet, meist von Personen, die wegen ihrer Ideen verfolgt werden. Jetzt arbeite ich zum Beispiel an einem Fall der Verfolgung von Kurden und Tschetschenen. Neben meiner beruflichen Tätigkeit im engeren Sinn widme ich mich dem Schreiben von Artikeln über Menschenrechte, halte Vorträge und unternehme Reisen als Beobachter ins Ausland. Ich war viermal in Nordirland, sechsmal in Palästina, oft im Baskenland und auch in den Vereinigten Staaten beim Prozess gegen die „Cuban Five“, angeklagt in einem Spionagefall… Ich bin seit 43 Jahren als Anwalt aktiv und Stück für Stück führte mich mein Weg immer weiter in die Welt der politischen Prozesse.

Während Ihrer Laufbahn hatten Sie viele Kontakte mit dem spanischen Staat und seinem Justizapparat. Wie hat sich diese Verbindung entwickelt?

Von Belgien aus habe ich die spanische Geschichte seit der Franco-Diktatur sehr bewusst verfolgt. Ich arbeitete bereits als Anwalt, als Puig Antich 1974 mit der Garrotte hingerichtet und als die baskischen Verurteilten 1975 exekutiert wurden. Ich weiß, wie der spanische Staat zu dieser Zeit war und wie er jetzt ist. 1979 habe ich zum ersten Mal eine Beobachtungsmission ins Baskenland mit der Belgischen Liga für Menschenrechte unternommen, als sie sich dort regelrecht im Krieg befanden, unter militärischer Besetzung und einer furchtbaren Repression. Seit den 80ern und 90ern habe ich viele Basken verteidigt, deren Auslieferung aus Belgien beantragt wurde. Einige Fälle haben in Spanien für viel Lärm und Aufmerksamkeit in den Medien gesorgt. 1997 habe ich beim Prozess von Herri Batasuna (HB) als Beobachter in Madrid teilgenommen, wo 23 Mitglieder von HB wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der ETA angeklagt waren. Das waren Lehrkräfte, Anwälte und Intellektuelle, die sehr harte Urteile bekommen haben, welche aber, schlussendlich, in der Berufung aufgehoben wurden. Ich habe verstanden, dass es kein Gerechtigkeitsgefühl und keinen Respekt für Menschen- und grundlegende Rechte gibt. Die Richter in Madrid haben sich nicht darum gekümmert und hielten es für normal.

Vor Kurzem wurden Sie beauftragt, den katalanischen Präsidenten Puigdemont und zwei seiner Minister zu verteidigen. Mit welchen Argumenten konnten sie ihre Auslieferung stoppen?

Die Auslieferungen aufgrund eines europäischen Haftbefehls werden in 99 Prozent der Fälle ausgeführt. Man kann sie nur stoppen, wenn das Risiko besteht, dass Menschenrechte verletzt werden oder wegen des Prinzips der doppelten Beschuldigung – die Delikte müssen in beiden Ländern existieren. Dieser letzte Punkt war die Essenz unserer Verteidigung: Wenn sich die Geschehnisse in Belgien ereignet hätten, wären sie strafbar? Und die eindeutige Antwort ist: nein. Die Anschuldigung selbst mal außen vorgelassen, kann man nach der belgischen Verfassung einfach keinen Amtsträger dafür bestrafen, dass er seine Funktion ausübt: Meinungen ausdrücken, wählen oder das Gesetz anwenden. Wenn das flämische Parlament ein Referendum über die Unabhängigkeit von Flandern abgehalten und in der Folge diese ausgerufen und ausgeführt hätte, könntest du unter keiner Anstrengung der Welt Minister ins Gefängnis stecken. Das ist unmöglich. Das Höchste, was man machen könnte, wäre zum Verfassungsgericht zu gehen und die Entscheidung zu annullieren, weil sie verfassungswidrig ist. Also das, was der spanische Staat mit dem Entzug der Autonomie über den Artikel 155 gemacht hat – sehr umstritten, nach Meinung vieler Experten –, aber man kann nicht auch noch zusätzlich den Präsidenten und Minister persönlich bestrafen. Das ist völlig überzogen. Auf der anderen Seite sind die fünf Anklagepunkte von Puigdemont und den anderen Ministern kaum kompatibel mit dem belgischen Strafrecht, wie die Delikte des Aufstands, Rebellion und Konnivenz von Beamten… Es war klar, dass das alles maßgeschneidert war.

Schließlich hat man sich dazu entschieden, den Haftbefehl zurückzunehmen. Wie beurteilen Sie dieses Vorgehen?

Es ist sehr unüblich, dass so etwas passiert. Es gab Kontakte zwischen der belgischen und der spanischen Staatsanwaltschaft, in denen die belgische Staatsanwaltschaft die Spanier überzeugt hat, dass Puigdemont und die anderen Minister straffrei als geschäftsführende Minister ausgehen und dass ihre Auslieferung deshalb vor dem belgischen Gericht abgelehnt werden würde. Als sie verstanden haben, dass sie den Fall verlieren würden, hat die spanische Staatsanwaltschaft entschlossen, den europäischen Haftbefehl zurückzunehmen. Man muss wissen, dass die belgische Staatsanwaltschaft den Auslieferungsantrag voll und ganz unterstützt hat, vor allem, um die Freundschaft mit den Madrider Kollegen zu erhalten. Die belgische Staatsanwaltschaft hat sich bemüht, das belgische Gericht zu überzeugen, Puigdemont und die anderen Minister auszuliefern, obwohl sie von Anfang an hätten argumentieren können, dass sie als Minister Immunität genießen. Das ist es, was ich erwartet hatte, aber so ist es nicht gelaufen. Die Staatsanwälte unterhalten auf internationaler Ebene enge Verbindungen und sind sehr abhängig davon, sich gegenseitig zu unterstützen.
 

Werden Puigdemont und die anderen Minister einfach zurückkehren können?

Puigdmenont kann nur nach Katalonien zurückkehren, wenn der nationale Haftbefehl aufgehoben wird. Ein baskischer Klient hat jahrelang in Belgien als europäischer Staatsbürger gelebt und dann hat der spanische Staat erneut seine Auslieferung beantragt, für Vorfälle, die vor über dreißig Jahren passierten. Die spanische Richterschaft gibt nicht auf.

Welche Rückschlüsse lassen sich daraus über die Gewaltenteilung des Staates ziehen?

Ich möchte annehmen, dass die Regierung der PP den Richtern nicht befohlen hat, die katalanischen Politiker festzunehmen. Formal kann man so etwas jedenfalls nicht machen. Informell wird man nie wissen, ob es passiert ist. Aber es kann sehr gut auch eine Gewaltenteilung und eine völlig parteiische und nicht unabhängige Richterschaft geben. Die Richter können ihre persönlichen politischen Sympathien bei ihren Urteilen berücksichtigen, ohne dass es einen externen Einfluss gibt. Die Verhaftung der katalanischen Minister aus politischen Gründen ist nicht gerade ein Beleg für Unparteilichkeit. Während des Übergangs zur Demokratie wurde die Armee, die öffentliche Verwaltung und die Richterschaft nie bereinigt. Je nachdem welche Themen du berührst, kehren die Dämonen der Vergangenheit zurück. Die Einheit Spaniens ist eine sehr stark verwurzelte Idee.

Was spiegelt die polizeiliche Repression vom 1. Oktober wider?

Unabhängig davon, ob das Referendum legal oder illegal war, hätte man es nicht mit Gewalt stoppen dürfen. Man konnte die Durchführung oder die Ergebnisse in Frage stellen. Aber es ist völlig antidemokratisch, es mit Gewalt verhindern zu wollen. Der 1. Oktober war über die Maßen antidemokratisch. Ich bin sicher, dass diese antikatalanische Mentalität, die es während des Franquismus gab und die für viele Jahre unter der Oberfläche bliebt, in letzter Zeit wiederbelebt wurde. Wenn es um die Einheit Spaniens geht, lebt Franco noch. Selbstverständlich hat sich Spanien in den letzten vierzig Jahren verändert, aber es gibt keinen Gerechtigkeitssinn wie wir ihn in Belgien kennen. Hier sind wir eine Demokratie seit 1830, aber in Spanien ist das alles noch sehr neu. Es gibt wenig Neigung zur Demokratie. Aber das heißt nicht, dass Spanien kein Rechtsstaat wäre.

Viele Katalaninnen und Katalanen erwarteten, dass die europäische Gesellschaft den spanischen Staat verurteilen und auf gewisse Weise sogar intervenieren würde. Das ist nicht passiert.

Es steht außer Frage, dass Rajoy viel Einfluss in der Europäischen Volkspartei (EVP) hat und dass die EVP die Verurteilung Spaniens durch die Europäische Kommission bremst. Juncker sagt, dass Puigdemont und die anderen Minister das Gesetz gebrochen hätten, aber das ist diskutabel und ich denke nicht, dass es Grund genug ist, um sie einzusperren. Er sagt auch, dass die spanische Richterschaft unabhängig sei, dass es eine Gewaltenteilung gebe und dass wir sie deshalb handeln lassen müssten. Aber Polen wird sanktioniert, weil es die Demokratie nicht respektiert, da seine Regierung kein Mitglied der EVP ist. In Ungarn und Spanien befindet sich die Regierung in der EVP und sie lassen sie in Ruhe. Das parteiische Interesse der EVP und seine Mehrheit im Europäischen Parlament stehen über der Demokratie, so einfach ist das. Wenn acht Minister einer bestehenden Regierung in der Türkei festgenommen werden würden, gäbe es kein Halten bei der Kritik. Wenn aber das Gleiche in Spanien passiert, regt sich keiner darüber auf.


Was kann das katalanische Volk von Europa erwarten?

Europa wird dem spanischen Staat keine Hindernisse in den Weg legen. Sie werden zulassen, dass das Problem ausblutet. Wenn die nationalistischen Parteien wieder die Macht erlangen, wird abermals der Artikel 155 angewandt und Europa wird nichts tun, davon bin ich überzeugt. Viele europäische Länder haben Regionen, die sich loslösen wollen und sicherlich ist Europa gegen die Idee der Unabhängigkeit. Frankreich ist auch antikatalanisch und hat Probleme mit Korsika und der Bretagne. Paradoxerweise ist die Mehrheit dieser Regionen pro-europäischer als die Staaten, die das Abgeben von Souveränität nicht gerne sehen. Ein echtes Europa müsste auf Grundlage der Völker und Regionen aufgebaut werden, weil diese sich als Einheiten zusammengehalten haben, als die inneren Grenzen geöffnet wurden. Mit der Zeit und in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts werden die Nationalstaaten verschwinden.

Was kann das katalanische Volk jetzt tun, um seine Autonomie zu verteidigen?

Von außen betrachtet ist die Situation sehr schwierig. Ich bin kein Nationalist, aber ich sorge mich um die Demokratie und um den Respekt für den Volkswillen. In „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ ist der erste Artikel die „Selbstbestimmung der Völker“. Das ist ein grundlegendes Recht. Die Katalanen müssen um dieses Recht und für eine bessere Autonomie kämpfen. Das wird möglich sein, wenn es genug sozialen Druck gibt und die andere Seite minimal zur Vernunft kommt. Aber ich zweifele sogar, dass eine moderatere Haltung mit der Unterstützung Europas rechnen könnte. Europa unterstützt die nationalen politischen Parteien.

Also kann Katalonien sich auf grundlegende internationale Rechte berufen, aber wenn die sogenannte spanische Demokratie das nicht macht, wird niemand sie beachten?

Die Demokratie hat eine Schwäche: Sie nimmt an, dass die Mehrheit recht hat, aber das stimmt absolut nicht. Die Mehrheit hat nicht unbedingt gute Absichten, sie kann sich täuschen lassen und sehr unsinnige Entscheidungen treffen. Wir müssen uns nicht dem Mehrheitswillen unterwerfen, wenn dieser nicht-ethische Ansichten oder Taten propagiert. Ich glaube, mit der Inhaftierung der katalanischen politischen Führer wegen ihrer politischen Ideen handelt das spanische System – Judikative, Legislative, Exekutive – nicht ethisch. Sie begehen Delikte als demokratisch gewähltes Regime, gestützt von einer Mehrheit im Rest des Staates. Wenn eine Mehrheit eine antidemokratische Haltung unterstützt, müssen die Katalanen das nicht akzeptieren.

Aber ohne starke politische Strukturen ist die katalanische Region zu schwach um sich Geltung zu verschaffen…

Die Katalanen müssen sich nicht über die Institution, die Parlamente und Regierungen den Kopf zerbrechen. Es gibt viel Energie und viele Reformoptionen außerhalb der Parlamente. Über das Internet und die sozialen Medien ist es viel einfacher als früher, ethische und demokratische Ideen zu verbreiten und einen qualitativen Einfluss auszuüben. Ich glaube, genau das passiert in Katalonien gerade. Man muss sich nur die Organisation der Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR) oder die Demonstration in Brüssel mit 45.000 Personen anschauen. Eine relativ kleine Gruppe, die Ungerechtigkeiten anprangert, kann viel erreichen. Die Berliner Mauer ist durch eine Bürgerbewegung zu Fall gekommen. Das ist die Hoffnung, die ich dem katalanischen Volk machen möchte.


Das Interview führte Bart Grugeon für „Directa“, erschienen am 18.01.2018 (https://directa.cat/paul-bekaert-quan-es-tracta-de-unitat-despanya-franco-segueix-viu). Übersetzung von Max (Twitter: @catabalat)

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